8. Juli 2023

Das umstrittene Kulturfestival in Gießen und warum Menschen aus Eritrea fliehen

 

Agenda:

  1. Warum ist Eritrea in Gießen so wichtig?
  2. Die menschenrechtswidrige Lage in Eritrea (TRIGGERWARNUNG)
  3. Was ist das Eritrea Festival?
  4. Stellungnahme der GRÜNEN JUGEND Gießen gegen gewaltsame Ausschreitungen

 

TRIGGERWARNUNG

Menschenunwürdige Praktiken der Eriträischen Regierung, Gewalt an Menschen (Folter, Ausnutzung, Mord, etc.) werden im 2. Kapitel beschrieben.

1. Warum ist Eritrea in Gießen so bedeutsam?

In Hessen gibt es eine stark vertretene eritreische Gemeinschaft, die auf die Flüchtlinge des 30 Jährigen Unabhängigkeitskrieges in Eritrea der 70er und 80er Jahre zurückgeht.

Speziell in Hessen war eine erleichterte Familienzusammenführung gegeben. Das ermöglichte eine Kettenmigration, da so Flüchtlinge direkt in die Orte gingen mit bereits existierenden eritreischen Gemeinschaften.1

2. Die menschenrechtswidrige Lage in Eritrea

Eritrea ist ein Land am Horn von Afrika. Nach einem dreißigjährigen Unabhängigkeitskrieg gegen das Nachbarland Äthiopien wurde Eritrea am 24. Mai 1993 offiziell unabhängig. Eritrea gehört damit zu den jüngsten Staaten auf dem afrikanischen Kontinent. Der Kriegszustand endete offiziell im Juli 2018.

Geografisch gesehen liegt Eritrea am Roten Meer und grenzt im Südwesten an eine 700km lange Grenze mit Äthiopien. Im Süden wird es von Djibouti begrenzt, während der Sudan im Norden und das Rote Meer im Osten liegen.

Geographische Lage Eritreas am Horn Afrikas

 

Mit einer Fläche von ca. 100.000 Quadratkilometern ist es so groß wie Bayern und Baden-Würtemberg zusammen. Die geschätzte Bevölkerung von rund 6 Millionen Menschen macht Eritrea zu den kleinsten Staaten Afrikas und gleichzeitig einem der ärmsten der Welt.2

Viele Eritreer leben in den Nachbarländern Äthiopien und Sudan. Deutschland hat weltweit die drittgrößten Zahl an eritreischen Flüchtlingen. 3

Präsident Isaias Afwerki ist seit der Unabhängigkeit (1993) an der Macht und prägt seither das politische Gefüge des Landes. Da er für die Unabhängigkeit Eritreas kämpfte, sehen vor allem Ältere ihn eher positiver als die jüngeren Geflohenen.

Menschenrechtsverletzungen

Dem Regime in Eritrea werden Sklaverei, Folter, Verfolgung, Vergewaltigungen und Mord an ihrer Bevölkerung vorgeworfen.

Diese Aussagen gehen auf einen Bericht der Kommission zur Untersuchung der Menschenrechtsverletzungen der UN 4 5 aus dem Jahr 2015 zurück.

Zwar wurde dieser Bericht von einem deutschen Botschafter und weiteren europäischen Botschaftern in Eritrea für methodische Mängel kritisiert.

Den repressiven Charakter des Regimes, den “hochgerüsteten Spitzelapparat“ und die Meinungs- und Versammlungsfreiheit stellten sie jedoch nicht in Frage! 6

 

Anschuldigungen des UN-Berichtes zu Menschenrechtsverletzungen

Der UN-Bericht fasst die Lage für die Bevölkerung in Eritrea zusammen:

  • Es gibt keine freien, unabhängigen Wahlen

  • Es gibt keine freie Wohnort- oder Arbeitswahl. Stattdessen wird die (Zwangs-)Arbeit nach der Schule vorgegeben

  • Die meisten Eritreer “leisten” einen lebenslagen Nationaldienst unter sklavenähnlichen Bedingungen

  • Der Konformitätsdruck treibt die Selbstzensur so hoch, dass die Menschen nicht einmal ihrer Familie vertrauen können

  • Diskriminierung und sexualisierte Gewalt gegen Frauen ist in allen Bereichen des nationalen Dienstes und der Gesellschaft, insbesondere in militärischen Lagern, weit verbreitet

  • Es existiert kein Justizsystem. Es gibt keine Gesetze. Entscheidungen der Regierungen werden nur über staatlich kontrollierte Medien verkündet und von staatlichen Behörden ohne Rechtsgrundlage ausgeführt

  • Alle Wirtschaftssektoren in Eritrea sind auf Zwangsarbeit angewiesen

  • Offizielle Behörden und Militärs nutzen ihren Rang aus um Grundstücke und Land von der Bevölkerung zu nehmen, notfalls gewaltsam

Kriegsverbrechen in Tigray

Zudem unterstützte die eritreische Regierung Äthiopien im zweijährigem Krieg gegen die in der Region Tigray dominante „Tigray Defense Forces (TPLF)“. Konfliktgegenstand sind die verschobenen Parlamentswahlen in Äthiopien im Sommer 2020. Im November eskalierte der Konflikt dann militärisch.

 

Karte des Konflikgebietes Tigray im Norden Äthiopiens an der Grenze zu Eritrea

Schätzungsweise eine halbe Millionen Menschen starben aufgrund der Folgen des Krieges. Damit gilt der Krieg als einer der brutalsten unserer Zeit. Humanitäre Hilfe, Gesundheitsstationen sowie die Wasserversorgung wurden sabotiert und zerstört und konnten damit nicht an die hilfsbedürftige Zivilbevölkerung weitergeleitet werden.

Dem eritreische Militär werden in diesem Zusamenhang Kriegsverbrechen vorgeworfen. 7

Keine Pressefreiheit

Laut „Reporter ohne Grenzen“ (RoG) existierende keine Presse- und Meinungsfreiheit. RoG sieht die Pressefreiheit in Eritrea damit zwischen China und dem Iran.

„Die Medien werden vom „Ministerium der Information“ gesteuert. Ausländische oder andere Medien sind defacto verboten.“8

Damit platziert sich Eritrea am Bodensatz der Pressefreiheit und ist eines der Länder mit der eingeschränktesten Pressefreiheit der Welt.

„Es gibt so gut wie keine verlässlichen Informationen aus dem Land, weil Journalisten an einer Einreise gehindert werden.“9

Diaspora Steuer – 2% Steuer

Im Ausland lebende Eritreer entkommen dem „langen Arm“ Eritreas allerdings nicht.

Für offizielle Dokumente und konsularische Dienste (Geburtsurkunde, Pass, Arbeitserlaubnisse, etc.) müssen Geflüchtete zu eritreischen Konsulaten, in denen dann eine Zwangssteuer in Höhe von 2% von jeglichem Einkommen eingetrieben wird.

Im Sudan (nördlich Eritreas, hat über 100.000 eritreische Flüchtlinge 10) müssen Geflüchtete damit rechnen, dass dortige Beamte mit eritreischen Agenten kooperieren und gegebenenfalls deportieren.11 Ihnen drohen hohe Strafen wegen Verweigerung des Nationaldienstes und Landesverrat.

Doch selbst in westlichen Demokratien werden diese Gelder eingetrieben und finanzieren damit den repressiven Staat und Kriegsverbrechen.12

Um einen Job zu bekommen oder ein Bankkonto zu eröffnen, braucht es einen Identitätsnachweis. Den gibt es aber nur bei eritreischen Konsulaten, gegen die Zahlung der Steuer.13

„Wenn ich ein Erbe antrete, ein Grundstück kaufe, eine Geburtsurkunde möchte – immer brauche ich die Bescheinigung, dass ich die zwei Prozent meines Jahreseinkommens gezahlt habe.”14

Eritrea nutzt Erpressung und Gewaltandrohungen an der Familie, um diese Steuer einzutreiben. Die Rechtmäßigkeit dieser Steuer wurde 2017 von einem niederländischen Gutachten als in allen „Aspekten an rechtlicher Klarheit und Konsistenz“ bemängelt.15

Eritreas Isoliertheit

Eritreas stimmte als eines von 5 Ländern gegen eine Resolution, in der die UNO Russlands Invasion der Ukraine verurteilt wurde und den Abzug forderte.16

Eritrea unterdrückt sein Volk mit Zwangssteuern im Ausland, politischer Verfolgung und kaum vorhandenen Freiheiten in einem repressiven und vom Militär geprägten System. Obwohl verlässliche und zuverlässige Medienberichte aus und über Eritrea schwierig zu verifizieren sind, kann der Einfluss des eritreischen Staates auch hier in Deutschland nachgewiesen werden.

Das geht soweit, dass das Bundesministerium der Verteidigung die Zustände in Eritrea als Beispiel für Fluchtursachen aufführt und es als „Nordkoreas Afrikas“ bezeichnet.17

 

3. Was ist das Eritrea Festival?

Das Kulturfestival sei “eine kulturelle Veranstaltung, die die eritreische Kultur und Traditionen feiert” und findet am Wochenende des 07.07- 09.07.23 in den Hessenhallen in Gießen statt.18

Dem Veranstalter “Zentralrat der Eritreer in Deutschland” wird eine Regierungsnähe nachgesagt.19 Und sofern ihr Twitter-Account echt ist, lässt sich das in den Tweets bestätigen, in denen die Tigray Defense Forces (TPLF) beschuldigt werden, den Krieg in Tigray gestartet zu haben.20

Im vergangenen Jahr kam es zu Ausschreitungen von ca. 100 Leuten die über die Absperrungen an den Hessenhallen kletterten und die Teilnehmer des Festivals mit „Stöcken, Eisenstangen und Messer“ angriffen.21 Polizisten und Aufbauhelfer wurden verletzt.

Jedoch standen diese Ausschreitungen nicht im Zusammenhang mit der Gegendemonstration.22

4. Stellungnahme der GRÜNEN Jugend Gießen

Gewalt ist keine legitime Form des politischen Diskurses!

Die Regime-Nähe des Veranstalters “Zentralrat der Eritreer in Deutschland” steht für uns fest und wir lassen nicht zu, dass ein diktatorischer Staat hier in Gießen unangefochten seinen Einfluss ausübt.

Wir werden als GRÜNE JUGEND Gießen friedlich gegen das Regime in Eritrea demonstrieren und solidarisieren uns mit den Geflohenen die vor menschenrechtswidrigen Umständen vor dem Regime fliehen.

 

Samstagmorgen kam es außerhalb der Demonstration zum Teil zum gewaltvollem Versuch in die Hessenhallen einzudringen. Da zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Artikels das Festival noch stattfindet sowie die Polizei und Pressearbeit noch nicht abgeschlossen ist, warten wir bis genauere Informationen zu diesem Fall feststehen.

 

Autor: Martin Zwölfer (Sprecher GRÜNE Jugend Gießen)

 

Quellen

Alle Quellen wurden zuletzt am 07.07.23 abgerufen

 

1 Gemeinschaft im Exil: Eritreische Flüchtlinge in Frankfurt am Main. Nina von Nolting. Institut für Ethnologie und Afrikastudien – Johannes Gutenberg Universität Mainz. 2002. S. 26 – 27 https://www.ifeas.uni-mainz.de/files/2019/07/Nolting.pdf

2 Eritrea. The World Fact Book. CIA. 03.07.2023. (06.07.2022) https://www.cia.gov/the-world-factbook/countries/eritrea/

4 Report of the detailed findings of the Commission of Inquiry on Human Rights in Eritrea. Seite 449 – 452. 05.06.2015 https://www.ohchr.org/sites/default/files/HRBodies/HRC/RegularSessions/Session29/Documents/A_HRC_29_CRP-1.pdf#page=449

5 Report of the Commission of Inquiry on Human Rights in Eritrea. https://www.ohchr.org/en/hr-bodies/hrc/co-i-eritrea/report-co-i-eritrea-0

7 Der Krieg in der Region Tigray. Deutschlandfunk. 11.12.2022. https://www.deutschlandfunk.de/aethiopien-tigray-konflikt-100.html

8 Eritrea. Reporter ohne Grenzen. 2023 https://rsf.org/en/country/eritrea

10 Sudan. United Nations High Commissioner for Refugees. https://www.unhcr.org/countries/sudan

12 Eritrea’s ‘diaspora tax’ is funding violence and oppression. Amal Stefanos. AlJazeera. 20.02.2023. https://www.aljazeera.com/opinions/2023/2/20/eritreas-diaspora-tax-is-funding-violence-and-oppression

13 Zwangssteuer für Flüchtlinge aus Eritrea. Weltspiegel. 25.10.2017. YouTube-Video. https://www.youtube.com/watch?v=eJvNVrccoR0

14 Wie eine Diktatur Steuern von Asylbewerbern abzockt. Marcel Leubeucher. Welt. 05.06.2015. https://www.welt.de/politik/deutschland/article141966950/Wie-eine-Diktatur-Steuern-von-Asylbewerbern-abzockt.html

15 The 2% Tax for Eritreans in the diaspora. Facts, figures and experiences in seven European countries. DSP-groep Amsterdam, Tilburg School of Humanities, Department of Culture Studies. Juni 2017. S. 140 https://www.dsp-groep.eu/wp-content/uploads/The-2-Tax-for-Eritreans-in-the-diaspora_30-august-1.pdf

16 UN votes to condemn Russia’s invasion of Ukraine and calls for withdrawal. Julian Borger. 02.03.2022 TheGuardian. https://www.theguardian.com/world/2022/mar/02/united-nations-russia-ukraine-vote

18 Eritrea-Festival in Gießen darf stattfinden – Stadt legt Beschwerde ein. Kays Al-Khanak. Gießener Allgemeine. 05.07.23. https://www.giessener-allgemeine.de/giessen/verbot-der-stadt-gekippt-eritrea-festival-in-giessen-darf-stattfinden-92383991.html

20 Zentralrat der Eritreer in Deutschland. Twitter Account. https://twitter.com/zredev

21 POL-GI: Nach Attacken und Angriffen an den Hessenhallen: Portal für Hinweise, Videos und Bilder freigeschaltet – Geschädigte Taxifahrer gesucht. Polizei Presseportal. 25.08.2022. https://www.presseportal.de/blaulicht/pm/43559/5305592

22 Angriff auf Eritrea-Fest in Gießen: „Gefahrenlage vorab nicht erkennbar“. Kays Al-Khanak. Gießener Allgemeine.26.08.2022. https://www.giessener-allgemeine.de/giessen/gefahrenlage-nicht-erkennbar-91747705.html

Korrekturen:

28.03.24

– Korrektur: „Das drittgrößte Asylland ist Deutschland.“ zum präziserem „Deutschland hat weltweit die drittgrößten Zahl an eritreischen Flüchtlingen.“

– Korrektur: Diaspora – Tippfehler in Überschrift „Diaspora Steuer – 2% Steuer“

– Hervorhebung: „2 Prozent des Jahreseinkommens“ und bessere Formulierung des Satzes zum Herausstellen der 2% Zwangssteuer auf jegliches Einkommen.